für Alfonso Berardinelli

Die Situation wird untragbar. Meine Zimmervermieterin will mich auf die Straße setzen, und dabei fiel heute der erste Schnee. Im Tabakladen wurde ich nicht bedient; ab morgen werde ich nicht mehr rauchen können. Das Johlen der Kinder höre ich schon gar nicht mehr, und meine Taschen sind voll mit Steinen, um mir die Hunde vom Leibe zu halten. Ja, ich bin einsam.

Schon in der Schule mußte ich abseits sitzen, in einer Bank, die der Schreiner extra für mich gemacht hatte. Verächtlich spuckte er vor mir aus, als ich an seiner Werkstatt vorbeiging, und er hatte wohl recht damit. Für den Militärdienst wurde ich – selbstverständlich – untauglich erklärt. Mein Vater meint, damit hätte ich die letzte Gelegenheit verpaßt, je ein richtiger Kerl zu werden.

Sie werden begreifen, daß meine berufliche Laufbahn weder Sternstunden noch Glanzpunkte aufzuweisen hat. Ich verbringe meine Tage in einem Keller unterm Rathaus und verwalte die Archive dieses grauen Städtchens, in das ich mich verkrochen habe. Kein Mensch hat Interesse für dieses Archiv, und ich selber, ich muß es gestehen, eigentlich auch nicht. Während der vier Jahre, die ich hier arbeite, ist mir eine einzige Frage gestellt worden. Ein altes Männlein wollte wissen, wie alt die Eiche auf dem Platz vor der großen Kirche ist. Ich sah ihn, noch bevor er mich gesehen hatte, darum mußte er seine Frage wohl auch stellen. Als ich sagte, ich müßte erst nachschauen, murmelte er erleichtert, er würde wiederkommen und verschwand. Falls Sie es wissen wollen: Die Eiche auf dem Platz vor der großen Kirche ist 445 Jahre alt.

Es ist was komisches, so ein Archiv; es ist das Gedächtnis unseres Städtchens, auch wenn das nicht an sein Gedächtnis erinnert werden möchte. Zusammen mit dem Rest des Rathauses bildet es in gewissem Sinn – verzeihen Sie mir die bizarre Metaphorik – den Kopf unseres Städtchens.

Ich bin dazu verurteilt, im Kopf dieses Städtchens zu arbeiten. Und es ist das kein Zufall, denn es ist ja gerade mein Kopf, der all meine Probleme hervorgebracht hat. Oder vielmehr: Mein Kopf ist mein Problem. Er weicht ab von allen anderen Köpfen, hier und überall sonstwo in der Welt.
Nicht daß er abstoßend wäre, im Gegenteil; meine Gesichtszüge sind regelmäßig und ich habe, wie ich glaube, schöne gewellte Haare. Mein Blick ist klar und mein Atem frisch. Daran liegt es nicht, nein, es geht um die Stellung meines Kopfes. Dank einer grausamen Laune des Schicksals steht mein Kopf dergestalt auf dem Rumpf, ich weiß, es klingt unglaubwürdig, daß meine Nase in dieselbe Richting zeigt wie meine Füße. Wenn ich den Kopf senke, schaue ich also auf Brust und Bauch, statt auf Rücken und Gesäßbacken. Wenn ich gehe, blicke ich gleichsam in die Richtung, in die ich gehe, und nicht, so wie normale Menschen, rückwärts.

Sie werden verstehen, was für verheerende Folgen das hat: Die Einrichtung der ganzen Welt erinnert mich fortwährend an mein Gebrechen. Ein Kinobesuch wird zur Qual, ein Fahrrad ist für mich ein unbrauchbares Monstrum, wenn ich mit einer Walzer tanze – doch es gibt ja keine, die mit mir Walzer tanzt – ist es, als ob wir im Galopp liefen.

Hätte meine Mutter mich doch bei meiner Geburt nicht am Leben gelassen. Als sie sich nach der Entbindung auf dem Bauch drehte und der Arzt mich ihr vors Gesicht hielt, soll sie geschrien haben. Mein Vater fluchte und schaute hinüber zum Kruzifix überm Bett. Es schien, als würde der Christus vor Scham seine Brust noch fester ans Holz pressen und noch betrübter als sonst auf seine Fersen starren. Man nannte mich eine Laune der Natur.

Um nicht das Risiko einzugehen, Kinder zu erzeugen, die so sind wie ich, wollte ich mich nie verheiraten. Ich würde auch schwer heiraten können, denn vor einer normalen Frau kann natürlich nicht die Rede sein und Frauen mit meiner Abweichung sind – gottseidank – rar. Die Ehe ist für mich auch keine Notwendigkeit. Durch meinen absonderlichen Körperbau kann ich ja alleine essen und mich alleine ankleiden, während alle Menschen um mich herum dazu gezwungen sind, mit jemandem zusammenzuwohnen und zusammenzuessen und zusammenzuschlafen.

Ja, ich bin einsam, aber meine Suppe kann ich alleine essen und meine Schuhbänder binde ich mir selber zu.